Dietmar (Hermann) Voss wurde am 26. Mai 1954 als Sohn des Arztes Dr. Rolf Voss und seiner Ehefrau Waldtraut, geb. Falbe, in Hattingen/Ruhr geboren, wo der Vater als Assistenzarzt arbeitete. Nachdem er eine Assistentenstelle an der Gießener Universitätsklinik antrat, zog die Familie Ende 1958 nach Gießen im Mittelhessischen. Nach Krieg und Vertreibung – der Vater mit 17 Jahren eingezogen, von der Wehrmacht an die Ostfront geschickt, dort kriegsverwundet; die Mutter musste ihre niederschlesische Heimat auf gefahrvoller Flucht verlassen – empfanden die Eltern 1963 die Geburt eines zweiten, allerdings schwerbehinderten Sohnes (Veit) als erneuten Schicksalsschlag, zumal zu jener Zeit besonders geistig Behinderten Verachtung und gesellschaftliche Ausgrenzung entgegenschlug. Umso mehr schenkten sie ihm ihre Liebe und Zuneigung.

Die Mutter 2006
Der Vater 1989

In Gießen besuchte der erste Sohn das altsprachliche Landgraf-Ludwig-Gymnasium, wo er 1973 erfolgreich das Abitur ablegte. Von 1973-1978 studierte er an der Justus-Liebig-Universität Gießen Germanistik, Philosophie, Politologie. Von 1975-1976 war er Zweithörer an der Philipps-Universität in Marburg. Bis 1976 politisch engagiert im „Marxistischen Studentenbund“. 1978 absolvierte er die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien in Gießen („Mit Auszeichnung“). Gleichzeitig suchte er die Nähe zur subkulturellen Jugend-Szene der kleinen Universitätsstadt; die Liaison mit einem attraktiven Hippie-Mädchen machte ihn stolzer als erste akademische Meriten. Gefördert durch ein Graduiertenstipendium des Bundes, und betreut von dem Literaturwissenschaftler Klaus Inderthal und dem bekannten Philosophen Odo Marquard, verfasste er seine Dissertation Wahrheit und Erfahrung im ästhetischen Diskurs. Studien zu Hegel, Benjamin, Koeppen, die 1982 angenommen, mit „sehr gut“ bewertet und veröffentlicht wurde. Am 28. April 1982 schloß er die Promotion an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit einem Rigorosum ab (mündliche Doktorprüfung in verschiedenen Fächern).

Angezogen vom subkulturellen Punk- und Hausbesetzer-Milieu Westberlins der frühen 1980er Jahre (das er freilich in einer Art Zaungastperspektive erlebte), zog er mit seiner damaligen Lebensgefährtin 1982 nach Berlin (West), wo er von 1983-1985 als Studienreferendar tätig war. Von 1984-1990 arbeitete er als wissenschaftlicher Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin und an der Hochschule der Künste Berlin, wo er jeweils zahlreiche Seminare durchführte. In Berlin lernte er den Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel kennen, mit dem er gelegentlich zusammen arbeitete und publizierte. Eine dauerhafte Freundschaft entstand.

An der Universitätsklinik Gießen war sein Vater neben seinem ärztlichen Dienst auch als Forscher aktiv, beteiligt an der Entwicklung von Methoden der Organ-Konservierung und -transplantation, was ihn gegen Ende der 1960er Jahre zu einem der Pioniere der Nieren-Transplantation in Deutschland machte. Im Jahre 1987 stellte sein Vater, inzwischen Medizinprofessor in Gießen, den Kontakt zu einem engen Studienfreund her: dem Mediziner, Anatom, Biologen von Weltrang und Universalgelehrten Joachim-Hermann Scharf, der mit Auszeichnungen überhäuft (u.v.a. das Große Bundesverdienstkreuz 2000) und einer der berühmtesten Lehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wurde. Der Austausch und lange Gespräche mit diesem großen Naturforscher waren nicht nur eine große Ehre; sie erwiesen sich als lebensgeschichtlichen Glücksfall und immenser Gewinn für seine weitere Entwicklung, indem sie ihm z.B. Einblicke in Thermodynamik, Chaos-Theorie, Evolutionsbiologie verschafften, was fortan sein Schriftum, nicht zuletzt seine im Jahr 2000 veröffentlichte Habilitationsschrift zum Werk des naturwissenschaftlich ambitionierten Alfred Döblin, maßgeblich mitprägten.

Dank der Vermittlung von Hans-Ulrich Treichel trat er im Jahre 1990 eine Stelle als Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Università degli Studi di Salerno im südlichen Italien an, wo er bis Ende 2001 lehrte. Von 1994-1996 war er gleichzeitig als Dozent der Scuola Superiore per Interpreti e Traduttori in Neapel tätig. Eine schwere Erkrankung der Mutter, die nach einer Gehirnblutung eine Hemiparese erlitt und daraufhin bis zu ihrem Tod 2014 ein Pflegefall blieb, ein Schicksal, das sie mit bewundernswerter Demut und Gelassenheit ertrug, veranlasste ihn 2001 zur Rückkehr nach Deutschland.

Mit der Abhandlung Ströme und Steine. Studien zur symbolischen Textur des Werkes von Alfred Döblin sowie mit einem öffentlichen Vortrag zum Thema Die Neuentdeckung der Leere. Zum ‚Amor Vacui’ in Ästhetik und Dichtung der Moderne habilitierte er sich am 14. Juli 1999 an der Humboldt-Universität zu Berlin (vor dem erweiterten Fakultätsrat der Philosophische Fakultät II). Danach kam er seit 2000 seiner Titellehre als Privatdozent am Institut für Deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin nach. Von 2002-2004 arbeitete er als Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Berlin (Zentraleinrichtung Moderne Sprachen); von 2004-2009 lehrte er als Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin (Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation). Ab 2009 erfolgte eine intensive Phase publizistischer Tätigkeit im Spektrum von fachwissenschaftlichen Aufsätzen über philosophische Essays bis hin zu literarischer Kleinprosa (in Zeitschriften wie Merkur, Akzente oder Weimarer Beiträge). Der Aufsatz Heldenkonstruktionen. Zur modernen Entwicklungstypologie des Heroischen (in: KulturPoetik. Heft 2/2011) rief Einladungen zu Veranstaltungen des DFG-SFB 948 (Helden-Heroisierungen-Heroismen) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hervor, wie 2014 zur Summer School des Integrierten Graduiertenkollegs zum Thema „Faszinosum Antiheld“ (Vortrag Von Ahab zu Schwejk. Formen des Antihelden) oder 2017 zur 9. PONTES-Tagung des Altphilologischen Instituts zum Thema „Antikes Heldentum in der Moderne. Konzepte, Praktiken, Medien“ (Vortrag Hölderlins Heroen zwischen Klassizismus und Avantgarde).

Nach einem bewegten Leben, worin er als Arzt und Wissenschaftler viel für die Gesundheit seiner Mitmenschen tat, ohne sich um die eigene besonders zu kümmern, verstarb der Vater 2010 im Alter von fast 86 Jahren. Und er ruht nun, gemeinsam mit seiner Frau, mit der er die letzten Lebensjahre in Berlin verbrachte, auf einem Friedhof in Neukölln. Dort ist in einem Urnengrab auch ein Platz für den Sohn reserviert.

Vater und Sohn, Ischia 1994